Trümmergöre by Monika Held

Trümmergöre by Monika Held

Autor:Monika Held
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2013-12-31T16:00:00+00:00


Wenn man rote und weiße Socken zusammen wäscht, verlieren die roten Socken ein wenig Farbe und die weißen Socken werden rosa. Es waren nicht die schlechtesten Lehrer, die uns nach dieser Methode im Klassenraum verteilten. Ich wurde neben Steffi gesetzt, damit sie auf mich abfärben konnte. Sie hatte saubere Fingernägel, ihre Hefte und Bücher steckten in blauem Schutzpapier. Sie hatte keine Löcher im Pullover. Sie bekam zu Weihnachten eine Geige und in den Ferien fuhr sie mit den Eltern nach Italien. Ihr Vater war Lehrer, ihre Mutter spielte Klavier, manchmal wurde Steffi mit einem Auto von der Schule abgeholt. Wir mochten uns und vielleicht hätte sie wirklich auf mich abgefärbt – oder ich auf sie –, wenn wir Freundinnen geworden wären. Weil wir aber keine Socken waren, durften wir uns so nah nicht kommen. Für ihren ersten Besuch auf dem Platz meines Onkels bekam sie Stubenarrest. Mein Besuch bei ihr war nicht erwünscht, ihre Mutter schickte mich mit den Worten nach Hause: Unsere Steffi möchte Noten lernen. So saßen wir weiterhin nebeneinander, eine rote und eine weiße Socke und färbten nicht ab. Wir waren 26 Schülerinnen. Davon gingen nach vier Jahren drei aufs Gymnasium, auch Steffi, sechs auf die Mittelschule, sechzehn blieben zurück. Ein trauriger Rest, der zum ersten Mal spürte, dass es bessere und schlechtere Menschen gab.

Neben mir saß nun die schwarze Birgit. Ihr Vater war Kohlenhändler. Sein Platz war doppelt so groß wie der meines Onkels und aufregender, weil sich die Familie direkt neben die Kohlenberge ein Haus gebaut hatte. Klein und schmal, flach wie ein Bungalow. Weil Birgits Vater viele Male am Tag zwischen Kohlenhalde und Küche hin- und herlief, lag überall schwarzer Staub. Wir mussten nicht aufeinander abfärben, wir waren Socken von derselben Farbe. Wir übten nachmittags keine Noten, wir schippten Kohlen in die Körbe und Säcke der Kunden oder wuschen, wenn sie mich bei meinem Onkel besuchte, gebrauchte Autos. Weil es im Leben einer Steffi mehr Zeit für Schularbeiten gab, wusste sie, was in den Schulbüchern stand. Auch wir als verlassener Rest wussten viel, nur gab es dafür keine Noten. Die schwarze Birgit ist mit ihrem Vater unter Tage gewesen, in einer Stadt mit Eisenbahnen und Schienen unter der Erde. Im Harz hatte ihr ein Köhler erklärt, was man tun muss, damit das Feuer nicht erlischt, und wie man am Rauch das Stadium des Verkohlungsprozesses ablesen kann. Unter Tage! Verkohlungsprozess! Was für ein Wortschatz. Oder Uschi. Auch eine Socke, der man nicht genug Zeit gelassen hatte, Farbe anzunehmen. Ihr Vater war Metzger. Uschi wusste, dass das weibliche Schwein Sau, das männliche Eber, die Jungen Ferkel hießen. Sie kannte die Stelle, an die sie ihr Ohr legen musste, um ein Sauherz schlagen zu hören. Sie hätte jedem Lehrer erklären können, dass Lungenbraten im hinteren Rücken sitzt, eingerahmt von Ober- und Unterschale, Lendenkotelett und Bauchlappen. Dafür hätte sie eine Eins verdient und den Sprung aufs Gymnasium. Oder Hilde, das Mädchen, das vor mir saß: Ihr Vater war Koch im Vereinshaus des HSV. Hilde kannte die Aufgabe eines Liberos und wusste, wann der Schiedsrichter ›Abseits‹ pfeifen muss.



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